Ursula und Jost Hess managen Hausaufgabenhilfe des Arbeitskreises Asyl
Wenn Ursula Hess morgens aufwacht, liegt sie noch eine Stunde im Bett und liest in ihrem Lateinbuch, verrät Ehemann Jost Hess. “Um meiner Verantwortung gerecht zu werden”, erklärt seine Frau. “Ich fühle mich dann besser.” Denn die 68-jährige, sie hat Lehramt studiert, unterrichtet Kinder in Latein und Mathematik. Doch das ist nur ein Bruchteil des Aufgabenbereichs, den die Eheleute ausfüllen. Wer in Weiden an die Hausaufgabenbetreuung des Arbeitskreises Asyl denkt, denkt an Ursula und Jost Hess . Sie haben das Projekt gegründet, zum Erfolg geführt und sie leiten es bis heute – inzwischen fast 30 Jahre.
Angefangen hat alles im Februar 1985. “Damals sind wir das erste Mal in das neu eröffnete Asylbewerberheim in der Leimberger Straße gegangen”, erinnert sich Ursula Hess. “Die Stimmung im Vorfeld war miserabel. Viele haben die Flüchtlinge von vornherein abgelehnt, diffamiert. Wir wollten eigentlich eine Gegenöffentlichkeit schaffen.” Das haben sie mit Aufklärungsveranstaltungen auch getan. Doch dringender war für Ursula Hess nach dem Besuch im Heim das Wohl der Kinder. “Dort lebten viele Familien mit rund 50 Kindern und Jugendlichen. Es gab kaum Kindergartenplätze.” Also startete sie im März die Vormittagsbetreuung für Zwei- bis Sechsjährige. “Ich weiß nicht mehr, wie viele Kinder ich gewickelt habe.” Oder wie viele Kinder bei ihr Deutsch lernten. Dabei gab und gibt es viele fleißige Helfer, betont das Ehepaar.
Aus der Vormittagsbetreuung wurde eine Hausaufgabenhilfe, anfangs getragen von “Terres des hommes”. Aus dem Ein-Frau-Betrieb eine staatlich anerkannte Offene Ganztagsschule – finanziert von Bezirksregierung, Stadt und Spenden – mit 32 Beschäftigten und 20 Ehrenamtlichen , darunter Ursula und Jost Hess. Mit Räumlichkeiten für derzeit 210 Kinder und Jugendliche – aktuell vorwiegend mit Migrationshintergrund – im C&A-Gebäude, der ehemaligen Max-Reger-Schule (Asylstraße) und in der Albert-Schweitzer-Schule.
Die Hausaufgabenhilfe des Arbeitskreises Asyl – fast schon ein kleines Unternehmen – erfordert enormen Organisationsaufwand. Vom Einkauf der Lebensmittel – es wird täglich frisch gekocht – über die Einteilung der Küchen- und Lehrkräfte, bis hin zu Fragen der Finanzierung oder der Sozialversicherung. Letzteres hat seit 2010 der ehemalige Finanzbeamte voll übernommen, der sich außerdem um Behördengänge kümmert. Und jeden Abend von 18 bis 20 Uhr in der Sedanstraße Flüchtlinge berät . “Die Schicksale sind teilweise schockierend.”
Das ist nervenaufreibend, kräftezehrend. Doch Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Solidarität sind für die Eheleute Hess mehr als nur Worte. Sie haben nicht nur ihre Herzen, sondern auch ihr Haus für Flüchtlinge geöffnet. Ali – ein Flüchtling aus dem Iran – war im April 1985 der erste, samt Frau und Baby. Die vier eigenen Kinder – darunter ein Adoptivkind – mussten zurückstecken. “Sabine, damals 16, trat freiwillig ihr Zimmer ab.” Etwas später folgte eine jezidische Familie aus der Türkei mit fünf Kindern, die sonst Weiden hätte verlassen müssen. Jeziden sind als Religionsgemeinschaft über mehrere Länder verstreut und werden selbst in ihrer Heimat verfolgt. “Das sechste Kind kam bei uns zur Welt. Es heißt Sabine.” Eineinhalb Jahre lebten die Familien zusammen. Wie das ging? “Viele geduldige Schafe passen in einen kleinen Stall”, sagt Jost Hess.
“Das war eine interessante Lebenszeit”, blickt er zurück. “Teilweise wunderschön, aber auch belastend.” Er erinnert sich noch gut an den Tag, als die Familie anerkannt worden war und wegzog. “Mittags verließen sie das Haus. Abends haben wir beide uns bei einem Glas Wein zusammengesetzt, wollten erst mal durchschnaufen. Da hat’s geklingelt.” Vor der Tür stand ein junges Ehepaar, türkische Kurden. “Ihre Wohnung war durch einen Brand bei der Nachbarin so in Mitleidenschaft gezogen, dass sie raus mussten.” Also zog das Paar bei Ursula und Jost Hess ein. “Seitdem hatten wir eigentlich immer Gäste im Haus.” Derzeit eine junge Frau aus dem Kosovo. “Für meine Frau ist es eine Berufung, sich um Menschen in Not zu kümmern”, sagt der 67-Jährige. “Ich weiß, das klingt platt. Aber es ist so.”
Sich selbst zurücknehmen
“Man muss in der Lage sein, sich selbst etwas zurückzunehmen. Aber gleichzeitig gewinnt man etwas”, erklärt er dieses außergewöhnliche Engagement. “Der Blick weitet sich. Wir haben erkannt, dass es uns sehr gut geht.” Im Gegensatz zu den Flüchtlingen, wie seine Frau ergänzt: “Die leben in großer Unsicherheit. Fragen sich: Was wird aus mir?” Deshalb muss man sie an der Hand nehmen und ihnen beistehen, ist die Devise von Ursula und Jost Hess. So wie dem jungen Ehepaar aus dem Iran. Den Mann brachten sie an die Berufsfachschule für Informatik. Später besuchte er die Berufsoberschule, dann die Fachhochschule in Amberg, heute ist er selbstständiger Computerfachmann. Die Frau vermittelten sie an die Berufsfachschule für Soziales in Neustadt. “Jetzt ist sie OP-Schwester in Regensburg.”
Ähnlich gute Karrieren haben viele Kinder gemacht, die einst die Hausaufgabenhilfe besuchten. Den Satz “Das wäre ohne eure Hilfe undenkbar gewesen” hören Ursula und Jost Hess immer wieder. Viele nennen sie sogar “Mama” und “Papa”. “Die Hausaufgabenbetreuung ist mehr als ein schulisches Bildungsprojekt. Sie ist ein Lebensprojekt”, betont der 67-Jährige. “Wir zeigen den Menschen einen Weg auf und führen sie.” Oberster Leitsatz für die Kinder ist: Jeder Mensch ist gleich viel wert. Ursula Hess: “Das leben wir vor. Viele Besucher staunen, wie ruhig und harmonisch es hier zugeht.”
Doch wo bleibt da das Privatleben? Zwei- bis dreimal pro Woche gehen die Eheleute abends tanzen. “Nach der Arbeit um 20 Uhr. Das macht den Kopf frei. Manchmal gehen wir um halb Zehn zurück und räumen noch in den Arbeitszimmern auf.” In den Ferien ist ein Teil der Zeit für die Kinder und sieben Enkelkinder reserviert. “Der Rest gehört nur uns.”
Nachfolge ist offen
So viel Einsatz ohne – finanziellen – Lohn. Wie lange ist das machbar? “So lange wir gesund sind”, meint Jost Hess (1984 übrigens der erste GUL-Stadtrat in Weiden: Grüne-Unabhängige Liste). Wer dieses Lebenswerk einmal übernimmt, ist offen. “Einer allein kann das nicht schultern”, ist dem Ehepaar klar. Und: “Wer will sich das antun?” Bis jetzt hat sich keine Antwort gefunden. Auch wenn niemand verlangt, dass die künftige Nachfolgerin von Ursula Hess morgens im Bett Latein liest.
Spendenkonto bei der Sparkasse Oberpfalz Nord: AK Asyl; IBAN: DE62753500000620461772 – BIC: BYLADEM1WEN.